Filmstills aus »Shoah« von Claude Lanzmann

»Shoah« von Claude Lanzmann

Der Filmemacher Claude Lanzmann wäre im November 100 Jahre alt geworden, und Arte nahm das zum Anlass, seinen wichtigsten Film, »Shoah«, wieder in die Mediathek aufzunehmen und zusätzlich auf Youtube zu veröffentlichen.

In »Shoah« erzählen Menschen, die in den Vernichtungslagern überleben konnten, was sie erlebt haben. Und auch Menschen, die mitverantwortlich waren für die Organisation des Massenmords, erzählen. Dazu sehen wir Bilder von den Orten des Geschehens heute.

Lanzmann nutzt ausschließlich selbst gedrehtes Material, er verzichtet auf Archivmaterial; ebenso auf Musik aller Art. Diese Entscheidung ist auch heute, 40 Jahre nach den Dreharbeiten, mutig und besonders.

Es ist nicht schwer, sich auf das überaus ruhige Erzähltempo einzulassen. Bald ist es zwingend.

Die Zeitzeug:innen, denen Lanzmann wie ihren Erzählungen aus den Lagern so viel Raum lässt, sind im Film kaum älter als meine Eltern und Großeltern zur Zeit der Dreharbeiten. Die Städte, in denen Lanzmann seine Interviews drehte, sehen aus wie die Städte meiner Kindheit. Der Film schlägt eine Brücke in die Zeit des Nationalsozialismus: Ich begreife, es ist nicht lange her, dass Menschen auf diese Weise andere Menschen behandelten und Mord im industriellen Maßstab organisierten und verübten.

Der Film ist in seiner Machart freundlich und offen zu mir, er zwingt mich zu nichts. Über neun Stunden, auf Arte in zwei Teilen, das klingt zunächst vielleicht nach Überwältigung, nach Anstrengung, purem Durchhaltenmüssen, aber das ist es gar nicht. Ich schaue immer, so viel ich möchte und finde am nächsten oder übernächsten Abend beim Weiterschauen sofort den Anschluss.

Der Film ist assoziativ geschnitten, er hat keinen chronologischen Aufbau im konventionellen Sinne. Lanzmann gibt mir nach den detaillierten Schilderungen der Zeug:innen immer Zeit zum Nachklingen, ich darf minutenlang meinen Blick schweifen lassen über die Ruinen und Denkmäler, die von den Lagern geblieben sind. Ich besichtige, ich höre zu, ich lasse auf mich wirken – ich habe keine Führung gebucht, die mich von Ausstellungsstück zu Ausstellungsstück zerrt, ich darf selbst entscheiden, wie lange ich mich einer Geschichte widme und wann ich eine Pause möchte.

Dieser Film manipuliert nicht.

Ich werde nicht in Steven Spielbergs oder Roberto Benignis Sicht auf die Shoah gezwungen, ich muss nicht ihren eigenen Überwältigungsdramaturgien folgen. Ich darf mich dem alles überwältigenden Verbrechen selbst nähern, vorsichtig.

»Shoah« ist erzählt wie der Prozess einer Traumabewältigung. Und damit formal wie inhaltlich so stimmig: Denn wir werden unmittelbare Zeug:innen der Bewältigungsversuche unendlich traumatisierter Menschen. Und so sehr Lanzmann immer wieder darauf besteht, dass die Überlebenden von Ausschwitz, Treblinka, Warschau weitererzählen, auch wenn sie stocken oder ihnen die Tränen kommen: Sie stimmen ihm zu, wenn er sagt: »Wir müssen es erzählen.«

Ich ermutige jeden Menschen, sich diesem Film zu nähern. Vielleicht nur eine halbe Stunde, eine Dreiviertelstunde. Vielleicht ein Stück mittendrin. Er erzählt nicht nur vom nicht zu fassenden Verbrechen von Menschen an Menschen. Er erzählt auch vom Tod und vom Verlust. Vom Bewältigen eines Traumas. Und von der Hoffnung und vom Weiterleben.