Hannah Arendt über die Lügen totalitärer Propaganda

»Die Lügen totalitärer Propaganda unterscheiden sich von den gewöhnlichen Lügen, auf welche nichttotalitäre Regime in Notzeiten zurückgreifen, vor allem dadurch, daß sie ständig den Wert von Tatsachen überhaupt leugnen: Alle Fakten können verändert und alle Lügen wahrgemacht werden.

Die Nazis haben das Bewußtsein der Deutschen vor allem dadurch geprägt, daß sie es darauf getrimmt haben, die Realität nicht mehr als Gesamtsumme harter, unausweichlicher Fakten wahrzunehmen, sondern als Konglomerat ständig wechselnder Ereignisse und Parolen, wobei heute wahr sein kann, was morgen schon falsch ist.

Diese Abrichtung könnte exakt einer der Gründe dafür sein, daß man so erstaunlich wenig Anzeichen für das Fortbestehen irgendwelcher Nazipropaganda entdeckt und gleichzeitig ein ebenso erstaunliches Desinteresse an der Zurückweisung von Nazidoktrinen vorherrscht. Man hat es hier nicht mit Indoktrinationen zu tun, sondern mit der Unfähigkeit und dem Widerwillen, überhaupt zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden. Eine Diskussion über die Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs wird auf derselben Ebene geführt wie eine Auseinandersetzung über die theoretischen Vorzüge und Mängel der Demokratie.«

Hannah Arendts Text von 1950 war Teil eines bemerkenswerten und berührenden Abends im Literaturhaus Köln »Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus«, co-veranstaltet vom PEN Berlin – Regionalgruppe West und der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, gelesen von Autor:innen wie Alida Bremer, Christoph Danne, Peter Licht, Monika Rinck, Kathrin Röggla, Bastian Schneider und Ute Wegmann.