Nun sind wir in die seltsamsten Liebesbriefe der Literaturgeschichte eingetaucht, und wir lernen Wilhelmine von Zenge kennen, Tochter aus gutem (Nachbars-)Haus. Kleist hatte sich überlegt, dass er in sie verliebt sein könnte und ihr einen Heiratsantrag gemacht; sie antwortete ihm, dass sie „ihn weder liebe, noch seine Frau zu werden wünsche, doch würde er mir als Freund immer recht werth sein“. Er ließ nicht locker, und Wilhelmines Eltern „gaben ihre Einwilligung, doch mit der Bedingung, so lange zu warten bis er ein Amdt habe, welches ich auch sehr zufrieden war“. Vermutlich, weil Wilhelmine sich schon erleichtert dachte, dass das dann noch eine Weile dauern könnte bis zur Hochzeit. Es wurde eine lange und trostlose Verlobungszeit, die im wesentlichen durch eigenartig verkrampfte Briefe Kleists dokumentiert ist, die wenig Liebe erkennen lassen. Wieder entsteht der Eindruck, Kleists verzweifelter Wille zum Lebensplan, der dann bitte, verdammt noch mal, auch umgesetzt werden muss, war hier treibende Kraft. Ach, Heinrich, das hätten wir Dir doch gleich sagen können, dass das so nichts wird.
Kleist wirbt nicht um diese Frau, er versucht nicht, ihr Herz zu gewinnen, er flirtet nicht, man hat keinen Spaß miteinander – natürlich, uns fehlen die Mitschnitte ihrer Gespräche, aber die (zumindest ersten) Briefe haben, auch da, wo sie sich auf Gespräche zwischen den beiden beziehen, nichts spielerisches oder gar erotisches. Kleist versucht in seinem Brief von April / Anfang Mai 1800, ihr ein Liebesbekenntnis zu entlocken, und er tut das so gewaltsam und verkrampft, dass mal wieder der Eindruck entsteht, eigentlich versucht er sich selbst zu überreden, diese Frau zu lieben:
Sagen Sie es mir, wenn Sie mich lieben – denn warum sollten Sie sich dessen schämen? Bin ich nicht ein edler Mensch, Wilhelmine?
Zwar eigentlich – – ich will es Ihnen nur offenherzig gestehen, Wilhelmine, was Sie auch immerhin von meiner Eitelkeit denken mögen – eigentlich bin ich es fest überzeugt, daß Sie mich lieben.
Wir können uns die beiden nur in unterschiedlichen Sofaecken vorstellen, mit einer Teetasse in der Hand, Wilhelmine den geistigen Ergüssen Heinrichs stumm zuhörend. Über die Ergüsse wird hier noch zu reden sein. Die beiden haben vom ersten Tag an das Verhältnis eines Nachhilfelehrers zu seiner Schülerin gehabt. Kleist, selbst nicht mit echtem Selbstbewusstsein gesegnet, fand hier offensichtlich eine, die noch weniger von den eigenen Gaben überzeugt war und die Denkübungen, die er für sie erstellte, bereitwillig absolvierte.
Einen Beleg für eine heterosexuelle Veranlagung Kleists stellen die versammelten Briefe von ihm an sie jedenfalls nicht dar. Unwahrscheinlich, dass es zu bedeutenderen Zärtlichkeiten zwischen ihnen gekommen ist.
Wilhelmine fand später, 1803, doch noch ihr Glück. Als Heinrich und sie endlich, nach langen Jahren, den Mut fanden, die Farce namens Verlobung aufzulösen, verliebte sie sich in Wilhelm Traugott Krug, einen Professor an der Universität Frankfurt / Oder, heiratete ihn und hatte sechs Kinder mit ihm. Kleist war sie für die Bildung, die er ihr vermittelte, offensichtlich durchaus dankbar.