Die „Zeit“ hat Kleist gleich mehrere Seiten in ihrer Ausgabe vom 5. Januar gewidmet und mit einigen Tagen Verzögerung auch online gestellt. Am bemerkenswertesten ist das Interview mit Jan Philipp Reemtsma vom Hamburger Institut für Sozialforschung, das als letztes auf zeit.de erschien, und ich erlaube mir, Auszüge zu zitieren:
(…) Zeit: Kann man Kleist mit dem Terror des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang bringen?
Reemtsma: Er empfand tiefe Lust am Extremen. Man hat bei Kleist zu Recht von Versuchsanordnungen gesprochen. Da herrscht so eine Unterkühltheit nach dem Muster vor: Wir sperren mal drei Leute in ein Zimmer und gucken, wann die sich die Schädel einhauen. Im Erdbeben von Chili wird mal ein Erdbeben eingesetzt, um zu schauen, wie die Menschen mit dem schönen Naturzustand umgehen: Da sind dann erst einmal alle gleich, es gibt keine Klassen mehr, scheinbare Idylle. Dann aber schlagen sie einander tot. (…) Kleist verzahnt die Gewalt gern mit dem Zufall. Ein Erdbeben wie im Erdbeben von Chili ist der Zufall schlechthin. Kleist stellt das Absurde von Gewalt bloß: Jede Geschichte hätte auch ganz anders verlaufen können. (…)
Zeit: Sie haben Kleist als Extremisten dargestellt. Geht sein Werk im Terrorismus völlig auf?
Reemtsma: Nein, keineswegs. Kleist ist widersprüchlich, das macht ja auch seinen großen Reiz aus. Es gibt eben nicht nur die Hermannsschlacht, sondern auch den Prinzen von Homburg. Der Prinz wurde vom brandenburgischen Kurfürsten zum Tode verurteilt, da er in einer Schlacht sich gegen dessen Befehle gestellt hat – Insubordination! Er fleht in einer ergreifenden Szene um sein Leben: „Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben, / Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei!“ Diese Szene wurde nach Anweisung Wilhelms II. bei Aufführungen am preußischen Hof gestrichen. (…)