Der Eingang ist nicht leicht zu finden, keine großen Transparente, Hinweisschilder, nichts. Man muss die Adresse wissen: Frankfurt / Oder, Große Oderstraße 26/27. Ein unscheinbares, niedriges, langgestrecktes Haus aus der Massenproduktion, gegenüber der St.-Marienkirche. Irgendwann findet man die Tür, sie ist verschlossen. Ein Briefkasten und ein Klingelknopf: Hier wohnt die Kleist-WG. Ich klingele, mir wird direkt geöffnet, und ich lande in der lauten Verabschiedung einer großen, begeisterten Reisegruppe. Ein schlanker Mann mittleren Alters ist hier Kartenverkäufer, -abreißer und Ausstellungsführer in einer Person, einer, der mit großem Herzblut und ganzem Einsatz hinter der Ausstellung steht. Als die Reisegruppe gegangen ist, wird es stiller, und der Mann und ich sind an diesem Samstagvormittag längere Zeit die einzigen auf dem langgestreckten Flur mit den unzähligen Räumen, die links und rechts abgehen. Die ideale Raumaufteilung für eine (sehr große) WG, es gibt fast keine Durchgangszimmer. Dieses Gebäude steht an der Stelle, an der das Haus stand, in dem Kleist geboren und aufgewachsen ist und das gemeinsam mit großen Teilen Frankfurts am Ende des Zweiten Weltkriegs abbrannte. Lange stand diese Etage leer, vorher war eine Behörde untergebracht; nun wird es seit über einem Jahr zwischengenutzt für eines der sicher großartigsten museumspädagogischen Projekte der letzten Jahre und zugleich einen Beweis, wie aktuell, wie zeitgenössisch Kleist ist.
Das Ausstellungskonzept ist einfach: Im vergangenen Jahr erhielten (in erster Linie) Schulen die Möglichkeit, ein Zimmer in dieser Etage völlig frei zu gestalten. Einzige Themenvorgabe: Kleist. Herausgekommen sind Gemeinschaftsleistungen von Schulklassen und -kursen fast aller Altersstufen und Schularten, auch ein paar Arbeiten von Studenten sind darunter. Beleuchtet werden erstaunlich viele Aspekte, Lebensphasen und Werke. Der Suizid ist hier nur ein Sujet von vielen (in zwei Räumen beklemmend thematisiert); manche Klassen haben sich auf große Rundumschläge konzentriert und wollen auf den ganzen Menschen neugierig machen (wie der Raum „Wusstest Du schon, dass …“), manche beleuchten einen einzigen Aspekt wie die auch in der Presse schon vielfach hervorgehobene Installation „Schreibgeschützt“ (Foto links), in der es um das schwierige Verhältnis Kleists zu Goethe geht, aber auch zu seinem Förderer Wieland. Einige Räume sind wie Bühnenbilder zu Stücken und Erzählungen Kleists, so ein Zimmer, irgendwo in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesiedelt, das als Szenenbild zum Bettelweib von Locarno dienen könnte.
Etwas Wunderbares ist hier, am Rande Deutschlands, geschehen.
1. Kindern und Jugendlichen und ihren Lehrerinnen und Lehrern sind künstlerische Freiräume eröffnet worden.
2. Die beteiligten Gruppen haben, darauf weisen die erläuternden Tafeln am Eingang zu den Zimmern explizit oder zwischen den Zeilen hin, teilweise mit erheblichen Mühen und unter großem zeitlichen Einsatz und nach vielen Schwierigkeiten, diese Freiräume genutzt – mit sicherlich enormen Effekten für die schulische Arbeit: Solche Projekte, vor allem, wenn sie so gelingen wie hier geschehen, vergessen die Macher ihr Lebtag nicht. Da wird Kleist nicht mehr auf eine angebliche Kantkrise reduziert wie offensichtlich in einem Großteil der Deutschunterrichtseinheiten in diesem Land (nur ein Raum beschäftigt sich mit den grünen Gläsern), da wird mit dem ganzen Kleist gekämpft.
3. Am Ende entsteht etwas, das viel mehr mit Kleist zu tun hat als die ganze große Kleistdoppelausstellung in Frankfurt und Berlin, über die noch ausführlich zu berichten sein wird. Auch wenn mir mein Führer durch die Ausstellung widersprach und sagte, die Kleist-WG ergänze nur die beiden anderen Ausstellungen – die Kleist-WG hat schon in ihrer Konzeption den großen grundlegenden Vorteil, dass hier ein vielstimmiges Konzert unterschiedlichster Ansätze – im Thema, in der Herangehensweise, in der Umsetzung, in der Aussage – der Konzeption in einem Guss, wie sie in der Doppelausstellung praktiziert wurde, gegenübersteht. Einem Menschen und Dichter wie Kleist, der selbst widersprüchlich ist und zum Widerspruch herausfordert, wird das Konzept der Kleist-WG einfach wunderbar gerecht. Kleist ist nicht kanonisiert und abgehakt, bis heute und sicher lange über dieses Gedenkjahr hinaus bleibt er kratzbürstig und anstrengend, teilweise abstoßend, aber immer faszinierend. Auch wenn der Kurator der großen offiziellen Doppelausstellung Günter Blamberger nicht nur Fakten über Kleist vermitteln will, sondern in seinem Konzept gerade auch die modernen, zeitgenössischen Aspekte von Kleists Leben und Werk (genau wie in seiner Biografie) durchaus betont: Die Macher der Kleist-WG haben mit ihrem vielstimmigen Konzert von Räumen, Mitteln und Themen das Widerborstige an Heinrich von Kleist in ihrer Gesamtheit besser gefasst. Die Kleist-WG wird ihm einfach besser gerecht. Natürlich sind nicht alle Beiträge auf demselben Niveau, manches, weniges ist auch haarscharf vorbei, manches sieht aus, wie man es von diversen Leistungskurs-Kunst-Ausstellungen auf Schulfesten kennt, viel Pappmaché … Aber der Gesamteindruck ist überwältigend und anrührend und erzeugt Bilder im Kopf, die mich lange nicht mehr loslassen. Und was will man mehr von großer Kunst.
Die Ausstellung bleibt noch geöffnet bis Ende Oktober. Über 4000 Besucher waren schon da. Wer irgend kann, sollte noch hin. Eine Stunde Zugfahrt von Berlin, das ist schnell geschafft.