Frankfurt / Oder ist nur eine Stunde mit dem Zug von Berlin entfernt, die Verbindung ist direkt und bequem, man fährt fast Luftlinie. Frankfurt / Oder liegt zentral im heutigen Europa an der Schnittstelle zwischen West und Ost. Frankfurt / Oder liegt verdammt weit weg, ein bisschen am Ende der Welt.
Das Gefühl größtmöglicher räumlicher Distanz beruht übrigens auf Gegenseitigkeit: In fast allen überaus netten und herzlichen Gesprächen, die ich mit in Sachen Kleist beschäftigten Frankfurtern führen durfte, entlockte meine eigene Herkunftsangabe Köln ungläubiges Staunen. Dass Berliner nach Frankfurt kommen, okay, aber dass sich ein Kölner, und dann auch noch wegen Kleist, nach Frankfurt aufmacht …
Frankfurt, das seit vielen Jahren versucht, frühere Kleistignoranz wieder gut zu machen, hat sich in diesem Jahr vollends zur Kleiststadt aufgehübscht. Schon im Bahnhof wird man durch riesige blaue Transparente mit Kleistzitaten begrüßt, und die Laternenpfähle zumindest der Innenstadt hängen voll mit sog. Lesezeichen, kleinen Bannern mit Kleistsprüchen. Für Oktober ist im Kleist-Forum, der Stadthalle, ein Festival mit Kleistaufführungen teilweise hochkarätiger Theater geplant. Trotzdem: Zum Finden der beiden großen Kleistausstellungen, über die ich noch ausführlich schreiben werde, ist doch ein Stadtplan zu empfehlen – wäre ich nicht gezielt deshalb gekommen, hätte ich diese beiden Orte wohl nicht gefunden. Und im September wurde das Kleist-Forum noch u.a. durch Fips Asmussen bespielt: „Der Klassiker deutschen Humors – 30 Jahre Bühnenerfahrung“.
Ein Erlebnis ist die St.-Marienkirche, die Heinrich von Kleist als Kind von seinem Fenster aus sehen konnte, direkt gegenüber dem Haus, in dem er aufgewachsen ist. Die Kirche wird heute als Ausstellungs- und Konzerthaus verwendet; sie ist komplett leer und schafft dadurch schon riesige Freiräume im Kopf. Großartige mittelalterliche Glasmalereien mit biblischen Motiven, u.a. mit fantastischen Darstellungen des „Antichristen“, erzeugen eine ganz eigenartige Atmosphäre.
Ansonsten ist heute nur noch wenig zu sehen vom Frankfurt, wie Kleist es erlebt hat. Um so mehr Spuren hat die Zeit der DDR hinterlassen, die typische Architektur dieser Epoche ist allgegenwärtig, wenn auch mit großem Aufwand und auch einigem Erfolg aufgehübscht.
Allgegenwärtig war an dem Tag, an dem ich mich in Frankfurt aufhielt, auch eine große Herzlichkeit. Über den begeisterten und begeisternden Betreuer in der Kleist-WG schreibe ich noch gesondert, und die Damen und Herren im Kleist-Museum waren auch einfach unglaublich nett. Am Ende meines Besuches dort landete ich, ehe ich mich versah, bei strahlendem Sonnenschein im Garten des Museums mit Kaffee und Kuchen („Sie müssen auch unbedingt den Butterkuchen versuchen, der ist ganz frisch und ganz wunderbar!“) auf einem blauen Kleist-Liegestuhl, in Sichtweite der gemächlich dahinfließenden Oder und mit Blick auf Repliken der Grabsteine von Kleist und seiner Schwester Ulrike, träge in die brandenburgische Sonne blinzelnd und zwei Berliner „Alten Schachteln“, wie sie sich mir vorstellten, von der Kleist-WG vorschwärmend. Großartig.
Dass der örtliche DVD-Fachhandel unter „Klassikern“ zu achtzig Prozent DDR-Fernsehproduktionen versteht, mag eine besondere Erscheinung der ehemals neuen Bundesländer sein. Geschenkt. Ansonsten war Frankfurt / Oder auf meinem Kurztrip eine überaus beglückende Erfahrung. Das geht durchaus auf das Konto dieser freundlichen Stadt; vor allem und ganz besonders und unbedingt geht es auf das Konto der Macherinnen und Macher der „Kleist-WG“ in der Großen Oderstraße, an dem Ort, an dem Kleists Geburtshaus stand. Über dieses echte Ereignis moderner Kleistrezeption wie aktueller Kunstpädagogik gibt es noch viel zu berichten.