Noch einmal zu Amphitryon. Kleist bezeichnet es als ein Lustspiel nach Moliere, und der wiederum griff auf gleich mehrere Vorbilder zurück, darunter die altrömische Komödie von Plautus. Vieles, was an Kleists Version fasziniert, findet sich so oder sehr ähnlich auch bei seinen Vorbildern, z.B. die Szene, in der Merkur in der Gestalt von Amphitryons Diener Sosias den echten Sosias so lange verprügelt, bis der ermattet seine Identität aufgibt – in durchaus erheiternder Kurzform ist hier das Thema des Stücks, der Alptraum des Identitätsverlusts in Form der Komödie, gleich im ersten Akt zusammengefasst. Aber was bei Kleist wie eine Neuübersetzung von Molières Stück anhebt, leicht gekürzt, aber nah am Original, entfernt sich von der französischen Version immer mehr – als habe Kleist beim allmähligen Schreiben seine eigenen Schwerpunkte erst gefunden.
Die interessanteste Figur ist Alkmene, Amphitryons Frau, und sie hat buchstäblich das letzte Wort, das es wegen der Interpretationsspielräume, die es Regisseuren, Schauspielerinnen und nicht zuletzt Germanisten eröffnet, zu einiger Berühmtheit gebracht hat: Ach! Bei Molière dagegen kommt sie in den letzten Szenen gar nicht mehr vor.
Wie so oft bei Molière ist das Tragische, Tiefe, Erschreckende durchaus im Stück angelegt. Man muss es als Regisseur und Schauspieler (hier vermutlich mit sanfter Gewalt) etwas herauskitzeln. Bei Kleist steht es im Text, hier wird den menschlichen Protagonisten, allen voran Sosias und Amphitryon, von den Göttern ziemlich übel mitgespielt.
Man stelle sich vor: Ich komme, gerade durch hervorragende berufliche Leistungen in meinem Ich kräftig gestärkt, nach Hause zu meiner frisch angetrauten Frau, die ich liebe und von der ich weiß, dass sie mich liebt – und ich bin in meiner Abwesenheit ersetzt worden durch jemanden, der genauso aussieht wie ich, nein, offensichtlich sogar noch etwas besser: Von ihm geht ein kaum zu beschreibendes, besonderes, sagen wir: göttliches Strahlen aus – kurz: Es ist jemand, neben dem ich sehr alt aussehe. Ich bin überflüssig, denn es gibt mich schon in besserer Version, als Amphitryon 2.0. Spiele ich diese Situation im Gedanken einmal durch, ist klar: Das ist eigentlich wenig komisch, das ist ein Alptraum.
Dieses gewisse Etwas, das Jupiter in der Gestalt Amphitryons hat, ist das gewisse Etwas, das Alkmene in die große Verwirrung stürzt, und hier entfernt sich Kleist deutlich von seinem Vorbild, so sehr, dass sein Stück nicht mehr als Bearbeitung gewertet werden kann, sondern nur als eigenständiges Werk, das Molières relativ harmloses Stück deutlich hinter sich lässt. Als sie beide Männer vor sich stehen hat und den richtigen Amphitryon nennen soll, wählt sie Jupiter. Und als der sich ihr als Gott zu erkennen gibt, fällt sie in Ohnmacht. Sie erwacht, als Jupiter sie, sich in den Wolken verlierend, verlässt, ruft aus Amphitryon!, und am Ende, als ihr wahrer Mann sie anspricht, entfährt ihr nur noch dieses Ach!
Alkmenes Situation stellen wir uns auch einmal kurz vor: Der geliebte Mann kommt deutlich früher als erwartet von der Arbeit nach Hause, und die Nacht, die ich mit ihm verbringe, ist soviel besser als alle Nächte, die ich mit ihm bisher hatte – und überhaupt ist dieser Mann einfach eine Nummer besser als alle Männer, die man sonst so bekommt. Und am Ende: ein Typ (ja, zugegebenermaßen: ein Gott), der mich nicht nur mit einem relativ billigen Trick ins Bett gekriegt hat, der mich nicht nur für seine eigenen Zwecke benutzt hat, sondern der, nachdem ich widerwillig feststellen musste, dass ich ihn eigentlich viel spannender finde als meinen eigenen Mann, wieder abhaut und mich mit dem matteren Original auf der Erde für immer zurücklässt. Und dann kann ich meine Enttäuschung und meine Wut (über die Männer und über mich selbst) gar nicht mal wirklich offen zeigen, möchte ich doch meinen Mann mit meiner Enttäuschung auch nicht verletzen. Denn eigentlich liebe ich ihn ja.
Da falle ich am besten erst einmal in Ohnmacht. Und mit Ach! habe ich am Ende fast schon zuviel gesagt.