Wir sind das Volk

Das Fragment von Robert Guiskard, Herzog der Normänner umfasst in der von Kleist 1808 im Phöbus veröffentlichten Fassung gerade einmal 22 Seiten. Es ist möglich, dass Kleist nie mehr als diese wenigen Verse fertiggestellt hat. Zwei Jahre hat er sich mit diesem Stück abgequält, nicht nur er selbst stellte überhohe Erwartungen an sich; Christoph Martin Wielands ultimative Lobhudeleien auf die Ausschnitte, die Kleist ihm vorgetragen hatte, die den Autor in unmittelbare Nachbarschaft zu „Äschylus, Sophokles und Shakspear“ stellten, werden es Kleist nicht einfacher gemacht haben, weiter­zuschreiben – Günter Blamberger geht sogar so weit zu sagen, Wielands Lob habe Kleist in vielfacher Hinsicht mehr geschadet als genutzt, habe es ihm doch den Zugang zu den bedeutenderen und womöglich potentiell hilfreicheren Dichtern in Weimar, bei denen Wieland schon lange abgemeldet war, versperrt.

Am Ende einer offensichtlich nur noch quälenden Zeit mit Robert Guiskard verbrannte Kleist das unfertige Stück (nicht ohne womöglich eine Abschrift in seinem Ideenmagazin aufzubewahren, auf die er 1808 zurückgriff) und fiel in eine mehrmonatige tiefe Krise.

Blamberger analysiert in seiner Biografie sehr nachvollziehbar die dramaturgischen Schwächen des 1808 veröffentlichten Fragments – kein Wunder, dass es bei 22 Seiten blieb, da entfaltet sich keine Handlung, am Ende des Fragments fehlt jeder Cliffhanger, man möchte nach der Lektüre der letzten Seite gar nicht unbedingt wissen, wie es weitergeht. Blamberger wagt das Gedankenexperiment, Robert Guiskard als abgeschlossenen Einakter zu sehen, und in der Tat ist das kurze Stück als solcher betrachtet durchaus spannend.

Worum geht es? Die für den Regisseur schwierigste und zugleich großartigste Szene steht gleich am Anfang – Auftritt der Hauptperson, das Volk. Viel Volk wohlgemerkt, die erste Szene ist ein großer Chormonolog einer Masse von Menschen in Angst, ein wogendes Meer von Menschen – die Metapher kommt immer wieder vor. Das Volk hat Angst vor der Pest, die überall wütet, und ruft nach seinem starken Führer Robert Guiskard. Das Problem ist: Der ist inzwischen selbst an Pest erkrankt. Und das große Problem der kompletten Führungsriege der Normänner ist nun: Wie geht es weiter? Leugnen, dass Guiskard nicht mehr in der Lage ist, sein Volk zu regieren? Zugeben, dass Guiskard nicht mehr als Führer taugt? Selbst die Machtübernahme vorbereiten, aber am besten so, dass die anderen es nicht merken?

Kleist spielt alle Varianten einer fundamentalen Regierungskrise durch, gibt dabei auch dem Volk und seinen Ängsten breiten Raum und liefert so eine spannende kleine Studie aus dem Politiklabor – und siehe da, mehr als die letztlich 524 Verse brauchts dafür gar nicht.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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