Keine Ahnung, warum Kleist sein Stück Die Familie Ghonorez später in Die Familie Schroffenstein umbenannt hat. Aus heutiger Sicht ist die Entscheidung auf jeden Fall zu begrüßen: Klingt der Titel doch arg nach einer schlimmen Geschlechtskrankheit; und mahnt uns die Geschichte zweier verfeindeter spanischer Familien auf den ersten Blick doch ebenso arg an eine schlimme Spülmittelwerbung voller wildem Paellapfannengeschrubbe. Ich stecke noch mitten in der Lektüre der Urfassung, also der Geschichte der Familie Ghonorez, und auch wenn ich, allein schon was die Länge des Stückes betrifft (sicher fünf Stunden Spielzeit), bei meinem ersten Urteil Richtung „typisches Frühwerk“ tendiere, so enthält das Werk doch genug Geniales, dass es eine eingehendere Beschäftigung lohnt.
So wie Shakespeares „Othello“ das ultimative Stück über Eifersucht ist, so könnte Ghonorez / Schroffenstein das Stück schlechthin über Misstrauen sein. Es gibt zu Beginn des dritten Aktes eine Szene zwischen Rodrigo (von der Familie aus Ciella) und Ignez (von der Familie aus Gossa), die eigentlich schon Romeo-und-Julia-mäßig ineinander verliebt sind, aber großes Misstrauen, genährt durch jahrelang und gerade wieder frisch kolportierte Gerüchte und böse Intrigen, steht zwischen ihnen. In der Familie Schroffenstein werden sie Ottokar und Agnes heißen, die Szene verläuft aber im Grunde identisch. Kleist findet eine geniale, kleine szenische Idee dafür: Rodrigo bringt Ignez in seinem Hut etwas Wasser,. weil ihr, angesichts neuer schlimmer Nachrichten aus den Familien kein Wunder, übel geworden ist. Ignez vermutet, er werde das Wasser mit Gift versetzen, und auch wenn wir, die Zuschauer, Rodrigo bereits ein wenig kennengelernt haben und ein Giftmord nicht das erste ist, was wir ihm zutrauen – Hand aufs Herz, weiß man’s? In diesem Stück traut niemand niemandem, die ständig neu gesponnenen Intrigen, die Gerüchte, die über die Bühne wabern, wirken tatsächlich bei den Protagonisten schleichend wie ein fortgesetzt ins Trinkwasser geträufeltes Gift. Zudem verfolgen wir die Wasser-Szene mehr aus Ignez’ Perspektive, bleiben wir doch bei ihr und nehmen teil an ihrem Verdacht, dass Rodrigo sie ermorden will, während Rodrigo zum Wasserholen die Bühne verlässt und sich unserer Beobachtung entzieht.
Verdacht – Hitchcocks „Suspicion“ ist eines der filmischen Meisterwerke zum selben Grundthema. Einer der Höhepunkte ist eine Szene, in der Johnnie, gespielt von Cary Grant, seiner Frau Lina ein Glas Milch als Schlaftrunk bringt. Zu diesem Zeitpunkt bangen wir schon lange um sie, haben wir doch mit ihr den starken Verdacht, dass ihr Mann sie umbringen will, um an ihr Geld zu kommen. Ist die Milch vergiftet? Wir sehen in diesem Film einem Ehepaar zu, wie es sich, bedingt durch das Misstrauen, langsam, aber unaufhaltsam immer weiter entfremdet, wie eine Liebe zerstört wird durch den schrecklichen Verdacht. Und wie immer hat Hitchcock großen Spaß daran, diese Entwicklung zu zelebrieren, Fährten auszulegen und dem Publikum mit einem gewissen Sadismus das Gefühl zu vermitteln, mehr zu wissen als die offensichtlich bedrohte Hauptfigur, sodass man sich nur schwer zurückhalten kann, ihr ein „Trink das Zeug nicht!“ zuzurufen. „Suspense“ nannte Hitchcock dieses Verfahren, und man kann sich ihr kaum entziehen.
Ähnlich in der Szene zwischen Ignez und Rodrigo. Anders als bei Hitchcock löst sich die Spannung aber früher auf, nämlich in dem Moment, als Rodrigo vor ihren Augen selbst von dem Wasser trinkt. Der Weg bis dahin ist aber hochspannend und grandios aufgebaut. Ein Kleist’sches Markenzeichen, die Zersplitterung der Verse in viele Textfetzen, wenn die Figuren unter höchster emotionaler Spannung stehen, findet sich bereits hier.
Am Ende der Szene lachen beide sogar gemeinsam – die Spannung zwischen ihnen hat, nach einem kaum zu übertreffenden Höhepunkt zu Beginn, einen absoluten Tiefpunkt erlangt. In einem Stück voller Misstrauen ein kurzer erholsamer Moment für das Publikum.