Hach, Kleist hat mal wieder eine Krise. Wir würden die Augen verdrehen, wenn wir nicht insgeheim seit Wochen schon darauf gewartet hätten: Die berühmte Kant-Krise, die muss doch jetzt bald kommen … Jetzt ist sie da, im Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22. März 1801. Und, wir haben unseren Heinrich ja schon ein bisschen kennengelernt, ich gehe einmal davon aus, dass sich die Krise tatsächlich in erster Linie in diesem Brief abspielt und Kleists Kopf und Seele in Wirklichkeit nicht allzusehr belastet waren. Nein, nicht nur in diesem Brief: Auch natürlich im Brief an Ulrike von Kleist vom 23. März 1801, in dem sich zentrale Passagen aus dem Brief an Wilhelmine fast wortwörtlich – copy and paste – wiederholen. In späteren Briefen, offenbar schon von der eigenen Krise etwas gelangweilt, verkürzt er die Kant-Krise auf ein paar hingeworfene Stichwörter.
Das reine Kopieren zentraler Aussagen übers eigene, von Verzweiflung geschüttelte Seelenleben kennen wir schon: In Kleists großer Lebensplankrise, in der er über Seiten über Glück und Tugend schrieb, hat er dieses Prinzip der Mehrfachverwertung mehr oder weniger ausgegorener Gedanken schon einmal praktiziert. Damals ging es u.a. darum, Kritiker seiner Lebensführung – und potentielle Geldgeber – davon zu überzeugen, dass er mal gerade zackzack sein Leben umschmeißen müsse. Der Verdacht liegt nahe, dass Kleist den armen Kant für ähnliche Zwecke missbraucht hat: Das Leben in Berlin, die offensichtlich entsetzlich langweilige Hospitanz (die, machen wir uns nichts vor, für den Kerl wahrscheinlich wirklich nicht das Richtige war) ohne Aussicht auf eine wie auch immer geartete Entwicklung, der Stillstand in der Beziehung zu Wilhelmine – ach nee. Schluss damit. Gehen wir mal wieder auf Reisen!
Kleist behauptet in seinem Brief an Wilhelmine, ihr Kants Philosophie zu erklären. Hätte Wilhelmine Kants Werke zur Hand gehabt, was sie natürlich nicht hatte und was Kleist wusste, hätte sie gesehen, dass das berühmte Gleichnis von den grünen Gläsern von Kleist und nicht von Kant stammt, und dass die Probleme, die Kleist mit den Büchern, vor denen es ihm nun plötzlich angeblich eckelt, mit einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Kants Philosophie eher wenig zu tun haben.
Schon in seinen wenige Tage später entstandenen Briefen an Schwester Ulrike ist von einer depressiven, gar verzweifelten Stimmung relativ wenig zu lesen – nur in den zweitverwerteten Ausschnitten aus seinem Brief an Wilhelmine. Dann gehts schon munter los mit den Reisevorbereitungen: Auf nach Paris! Sehr konkret, unternehmungslustig, mit Spaß bei der Sache. Depression sieht anders aus.
In diesen Tagen entsteht ein Porträt von ihm, er lässt sich von Peter Friedel zeichnen und schickt das Bild Wilhelmine zum Abschied. Er schreibt (im Brief an Wilhelmine von Zenge vom 9. April 1801) über das Bild:
Mögtest Du es ähnlicher finden, als ich. Es liegt etwas Spöttisches darin, das mir nicht gefällt, ich wollte, er hätte mich ehrlicher gemalt – Dir zu gefallen, habe ich fleißig während des Malens gelächelt, u. so wenig ich auch dazu gestimmt war, so gelang es mir doch, wenn ich an Dich dachte.
Ach Kleist, ich glaube, Herr Friedel hat Dich ehrlicher gemalt, als Du möchtest. Eigentlich ganz gut drauf, voller Reisepläne: Endlich wieder unterwegs, das ist es doch, was Du wirklich willst. Wilhelmine stört da nur.
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