Es ist nur ein Brief, keine Doktorarbeit, und wir wissen nicht, ob Wilhelmine Kleist des Plagiates überführt hat. Ein Amt, von dem ihr Verlobter hätte zurücktreten können, gab es jedenfalls nicht. Günter Blamberger weist in seiner Biografie darauf hin, dass die schöne Passage, auf die ich in dem Text „Täglich“ hingewiesen habe, von Goethe abgeschrieben ist, und weder hat Kleist korrekt zitiert noch hielt er es für nötig, in einer Fußnote auf die Herkunft hinzuweisen. Der Satz steht am Anfang des fünften Buchs von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ und wird von Goethe Serlo in den Mund gelegt:
Er pflegte zu sagen: „Der Mensch ist so geneigt, sich mir dem Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne stumpfen sich so leicht gegen die Eindrücke des Schönen und Vollkommenen ab, dass man die Fähigkeit, es zu empfinden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte. Denn einen solchen Genuss kann niemand ganz entbehren, und nur die Ungewohntheit, etwas Gutes zu genießen, ist Ursache, dass viele Menschen schon am Albernen und Abgeschmackten, wenn es nur neu ist, Vergnügen finden. Man sollte“, sagte er, „alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“
Tja.