Eine ganz berühmte Passage: Kleists Gedanken über das Gewölbe, aufgeschrieben im Brief an Wilhelmine von Zenge vom 16. November 1800:
Ich gieng an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spatzieren. Als die Sonne herabsank war es mir als ob mein Glück untergienge. Mich schauerte wenn ich dachte, daß ich vielleicht von Allem scheiden müßte, von Allem, was mir theuer ist. Da gieng ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Thor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – u. ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn Alles mich sinken läßt.
Diese Passage ist der Auftakt zu einer ganzen Reihe neuer Denkübungen für Wilhelmine. Wie schon in früheren Briefen gibt Kleist hier ein Beispiel, bevor eine Fülle von Aufgaben für die Verlobte gestellt wird, die sie im nächsten Brief an ihm lösen soll. Diesmal geht es um Vergleiche zwischen der Natur und dem menschlichen Gefühlsleben, mit so spannenden Fragen wie: Der Sturm reißt den Baum um, aber nicht das Veilchen, der leiseste Abendwind bewegt das Veilchen, aber nicht den Baum. – Womit hat das eine vortreffliche Ähnlichkeit? Wir können uns lebhaft vorstellen, wie Wilhelmine von Zenge ungeduldig und bildungsbegierig Kleists Briefe aufriss und es kaum abwarten konnte, ihren Geist an solchen Aufgaben zu schärfen.
So ist die Geschichte vom Gewölbe gar nicht unbedingt ein tiefer Einblick in Kleists Seele, sondern, im Zusammenhang betrachtet, eine eher akademische Angelegenheit. In diesem Brief ist Kleist ganz Hauslehrer.
Warum ist die Sache mit dem Gewölbe so berühmt geworden? Sie passt so schön zu unserem Bild vom depressiven, suizidgefährdeten Heinrich. Genau betrachtet ist der Vergleich, den er zieht, aber leider reichlich schief (genauso schief übrigens wie das Bild vom depressiven, suizidgefährdeten Heinrich). Mir fiel das auf, als ich versuchte, die Passage mit eigenen Worten nachzuerzählen. Da kommt man nämlich nicht weit.
Mal Kleists These kurz zusammengefasst: Das Gewölbe stürzt nicht ein, weil alle Steine zugleich fallen möchten. So weit, so schön und blitzgescheit formuliert. Aber dann? Ich, Heinrich, stürze nicht, weil alles in mir zusammen stürzt. Hä? Das geht nicht. Der Kausalzusammenhang, der ja den Gewölbesatz erst schön macht, funktioniert bei der menschlichen Analogie nicht. Neuer Versuch: Ich, Heinrich, stürze nicht, wenn alles in mir zusammen stürzt. Das wenn benutzt Kleist tatsächlich. Das ist für sich ein ganz schöner, vielleicht auch tröstlicher, allerdings etwas dünner Satz. Er passt nur überhaupt nicht mehr zu der Gewölbe-Geschichte. Wenn und weil sind zwei paar Schuhe.
Kleiner Trost: Das schiefe Gewölbe hat über die Jahrhunderte immerhin ganz gut gehalten. Ob Wilhelmine aufgefallen ist, dass ihr Lehrer, nein, Verlobter da eine schöne Geschichte mit wenig Dahinter erzählt hat, ist nicht überliefert.
Lieber Herr Fueg
Ihre Folgerung: „Aber dann? Ich, Heinrich, stürze nicht, weil (wenn) alles in mir zusammen stürzt. Hä? Das geht nicht.“ ist wohl nicht ganz richtig. Kleist hatte offensichtlich eine Menge Probleme und eben gleichzeitig und er befürchtet nur, dass alles stürzt. Für mich ist der Trost sehr nachvollziehbar, den er aus der Tatsache zog, dass, wenn alles gleichzeitig stürzen will, sich nichts bewegt. Dies scheint ein Gesetz zu sein. Wenn alle gleichzeitig in die Ferien fahren wollen, steht die Autobahn. Er hat wohl dieses Gesetz erkannt und daraus Trost und Hoffnung auch für seine Situation geschöpft. Das „weil“ konnte er nicht benutzen, da es ja noch nicht feststand, dass ihn Alles sinken lässt. So betrachtet, stimmt für mich alles. Weder ist der Inhalt „dünn“ und auch „wenn und weil“ sind dann keine zwei Paar Schuhe.
Herzlichen Gruß
Andreas Veigel