Prinz Friedrich von Homburg ist ein großartiges Stück, anrührend, bewegend, zutiefst menschlich, spannend, seltsam, verträumt; es ist der ganze Kleist in einem Stück, und, das freut einen Unentwegtkleistleser wie mich ja dann doch besonders, es geht zur Abwechslung einmal gut aus. Es ist auch, und das ist mir bei der erneuten Lektüre nach mehreren Jahren Abstinenz diesmal aufgefallen, ein regelrechtes Versuchslabor über das allmähliche Begreifen.
Es wimmelt in diesem Stück von Situationen, in denen ein Mensch erst nach und nach begreift, was geschehen ist oder was noch geschehen wird; oft sind es ganz einfache Dinge, manchmal auch ganz große. Kleist hat sich schon im Zerbrochnen Krug als Meister des Auskostens eines Missverständnisses gezeigt, dort gehen die kurzen Ausrufe des Nichtbegreifens und des verständsnislosen Nachfragens, die zusammengesetzt selbstverständlich immer 1A-Blankverse ergeben, oft über halbe Seiten im Dramentext und schärfen die peinlich-komische Situation bis ins fast Unerträgliche. Prinz Friedrich von Homburg hat durchaus auch seine komödiantischen Momente, spielt die Missverständniskarte aber vor allem bei den großen Fragen aus und führt uns mit diesen zutiefst menschlichen Situationen die Figuren, allen voran die Titelfigur, nah ans Herz.
Im Kleinen ist das z.B. die Szene, in der er begreift, dass das Todesurteil, das über ihn gefällt wurde, ernst gemeint ist. Es dauert Minuten, bis das Dialoggeplänkel, das der Prinz aufrecht zu erhalten versucht, betroffenem Schweigen gewichen ist. Im Großen ist es natürlich das eine große Thema dieses Stück selbst, das Kleist vielleicht gar nicht als das große Thema wahrgenommen hat, das aber aus fast jedem Vers spricht: Der Umgang mit dem eigenen Tod, die Angst davor und endlich das Akzeptieren.
Es ist wahrhaft kein Wunder, dass dieses Stück, das Kleist allen Ernstes als patriotische Nummer verkaufen wollte und das ihm, so seine Idee, die Türen zurück ins militärische Berufsleben öffnen sollte, zehn Jahre nicht gedruckt und lange Zeit kaum bis gar nicht gespielt wurde: Für eine militärisch geprägte Gesellschaft, die regelmäßig neues Kanonenfutter benötigt, kommt ein Soldat in hoher Position, der auf dem Höhepunkt des Stückes auf offener Bühne in Todesangst zusammenbricht, gar nicht gut.
Kleist lässt seinen Protagonisten durch alle Stationen der Todesangst gehen, bis hin zum Begreifen und Akzeptieren, einem Ruhig werden vor dem Unausweichlichen. Dieser Prozess braucht Zeit, und es ist ungeheuer anrührend, dem Prinzen dabei zuzuschauen und diesen Weg mit ihm gemeinsam zu gehen. Das allmähliche Begreifen, das in so vielen Szenen auf Mikroebene eine gewisse Komik entfaltet, ist auf der Makroebene eine große Geschichte über den Menschen an sich und seinen Lebensweg bis hin zum unausweichlichen Tod.
Natürlich ist es auch eine Geschichte über Kleist selbst. Das Stück dürfte im Frühjahr und Sommer 1811 entstanden sein, und zu diesem Zeitpunkt zerbrach in seinen Augen sein ganzes Dasein. Finanziell war er durch das frühe Ende der Berliner Abendblätter ruiniert, die Aussicht auf neue Jobs und neues Geld hatte er sich unabsichtlich, aber radikal und nachhaltig verbaut durch wüste Beschimpfungen, Lügen und unverschämte Bettelbriefe bis hin zur Duellforderung. Der Mann war am Ende. Seine Schwester Ulrike reagierte ungeheuer erschrocken auf seinen Anblick, als er (lt. seinem Brief an sie von Ende September 1811) sie kurz in Frankfurt besuchte.
Ich bin sicher, Kleist thematisierte in Prinz Friedrich von Homburg auch seinen eigenen Umgang mit dem Tod. Auch ein Suizidaler muss durch die Phase der Angst vor dem Tod durch und wird sich erst umbringen können, wenn er diese Phase hinter sich gelassen hat und dem Tod ruhig ins Auge blicken kann. Die regelrechte Heiterkeit, die Kleist offenbar am Tage seines Todes zeigte, ist vielfach und meistens mit Befremden beschrieben worden; nach der Lektüre seines letzten Stücks finde ich sie überhaupt nicht befremdlich. So wie Prinz Friedrich Arthur von Homburg, nachdem er sein eigenes Grab gesehen hat – einmal zufällig, einmal es bewusst aufsuchend –, aus der unbedingten, grausigen, ja, peinlichen Todesangst in die ganz große Ruhe wechselt (Nun, o Unsterblichkeit, bist Du ganz mein!), so überwand auch Kleist seine Angst vor dem letzten Ende.
Vielleicht ist Prinz Friedrich von Homburg das erste Stück des erwachsenen Heinrich von Kleist – gegen dieses verblassen alle anderen regelrecht zu wilden Frühwerken, Formexperimenten, Sturm-und-Drang-Ergüssen. Vielleicht brauchte Kleist nach einem kurzen Leben voller Lebensexperimente, wilder Projekte und zahlreicher Momente des Scheiterns diese eine ganz große Krise 1811, um sein erstes wirklich tiefes und zutiefst menschliches Stück zu schreiben, so wie Jupitersinfonie und Requiem vielleicht auch Mozarts erste wirklich erwachsene Stücke kurz vor seinem Tod waren.
Vielleicht begreift man kurz vor seinem Tod das Leben besser.