In vielen Berichten über die Wochen nach dem 11. September 2001, so auch in der schon zitierten Wochenendbeilage in der SZ vom 10. September dieses Jahres, wird ausführlich die große Solidarität unter den New Yorkern geschildert, sich äußernd insbesondere durch die vielen, auch heute noch sehr anrührenden gegenseitigen, unentgeltlichen Hilfeleistungen unter Wildfremden. New York war zusammengerückt gegen eine unheimliche Macht von außen, durch die es in den Grundfelsen erschüttert war. Gemeinsam versuchte man in einer sonst als extrem hektisch erlebten Metropole, das Trauma durch große Solidarität untereinander zu bewältigen. In seiner kurzen Erzählung Das Erdbeben in Chili, ursprünglich unter dem, den Namen der Hauptfiguren folgenden Titel Jeronimo und Josephe 1807 veröffentlicht, beschreibt Kleist genau diese besondere Stimmung und beschwört eine Utopie einer klassenlosen Gesellschaft herauf, in der quasi, wie bei Jesaja, ein neuer Himmel und eine neue Erde geschaffen werden, Wolf und Lamm zugleich weiden und Löwe und Rind friedlich miteinander leben.
Es ist erstaunlich, wie Kleist diese Stimmung beschreibt, die sich so glasklar mit der oft geschilderten Stimmung nach dem Anschlag von New York deckt. Freilich: Die gelebte Utopie währt nicht lange. Eine durch die Katastrophe traumatisierte Gesellschaft kippt aus dem friedlichen, klassenlosen Miteinander innerhalb weniger Stunden in ein entsetzliches, entfesseltes Gemetzel, in einen ungeheuren Gewaltexzess.
Die Grundsituation der Erzählung hat schon revolutionäres, buchstäblich umstürzlerisches Potential: Ein von einer engstirnigen, religiös orthodoxen Gesellschaft verfolgtes Liebespaar erhält durch ein katastrophales Erdbeben, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt, eine zweite Chance und größtmögliche Freiheit. Eine positive Gesellschaftsutopie, entstanden aus der totalen Anarchie. Kleist zeigt die Möglichkeit, die Machbarkeit auf, einen Wimpernschlag lang – bevor die positive Anarchie in die schrecklichstmögliche umschlägt.
Auf wenigen Seiten schildert Kleist, wozu Menschen fähig sind, ohne jeden Versuch einer Erklärung, mit trockenen Worten, in schon gewohnt atemlosem Sprachduktus – wie Penthesilea lässt sich auch dieser Text nur in einem großen Rutsch lesen, als wäre er ein einziger Satz. Erst wenige Zeilen vor Schluss bremst er, kommt mit quietschenden Bremsen zum Stehen und lässt den Leser wieder einmal erschrocken, befremdet, angerührt in der Staubwolke allein.
Einer der wenigen Überlebenden ist der kleine Sohn des brutal gemetzelten Liebespaares, und Freunde des Paares nehmen es als Pflegekind an, nachdem ihr eigenes Kind bei den Beinen (…) hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert wurde. Und so lautet der Schlusssatz: Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.
Was für ein Ende. Es geht kaum als Happy End durch, kann es gar nicht, wenige Zeilen nach dem totalen Blutrausch. Die Möglichkeit der, auch ein wenig die Verpflichtung zur Freude ist für Don Fernando, einen der wenigen Überlebenden, so befremdlich wie für den Leser.
Das Erdbeben von Chili ist vielleicht erst für Leser des 20. und 21. Jahrhunderts, für Menschen, für die Auschwitz, der 11. September und Abu Ghraib zur Geschichte der Menschheit gehören, nachvollziehbar. Die große, immer noch schockierende Wahrheit dieses kleinen Textes erschließt sich vielleicht erst heute.