Ausufernde, unbändige, hemmungslose Gewalt ist faszinierend. Wir können nicht wegschauen. Vor zehn Jahren lief hinter den Klöppels und Wickerts dieser Welt in Endlosschleife das immer gleiche Video, rund um die Uhr: Der monströseste Terroranschlag, den die Welt bis dahin gesehen hatte. Die ultimative Gewaltszene. Nicht im Kino, wo vergleichbare Szenen häufig zu sehen sind, sondern in echt. Und wir haben bis heute den Schock nicht verarbeitet. Das zeigen die vielen Gedenksendungen, -veranstaltungen und Sonderseiten. Die zahlreichen publizistischen Versuche sind Zwischenergebnisse, nicht mehr, mal gelungen, mal weniger. Einer der gelungenen: Die Sonderbeilage der Süddeutschen Zeitung an diesem Wochenende, die acht Menschen, deren Leben durch den 11. September 2001 eine neue Richtung nahm, porträtiert. Sie zeigt Menschen, keine brennenden Türme, erzählt Geschichten und keine Kurzchronik der Ereignisse und rückt das Unfassbare ganz nah, aufwühlend nah. Ganz großer Journalismus.
Kleists Faible für Gewalt habe ich hier bereits mehrfach thematisiert. Das ungebremste Krachen eines vollbesetzten Verkehrsflugzeugs in ein Hochhaus, „verdampfende“ Körper, aus dem Fenster in den sicheren Tod springende Menschen, er hätte diese Berichte und Bilder sicher gierig aufgesogen. In seinen Werken spritzen Hirn und Blut über die Wände, Bären fressen Menschen auf offener Bühne, und wenn es um Liebe geht, reimen sich Bisse auf Küsse.
Das fast abstrakte Grauen der Luftbilder von den einstürzenden Türmen ist dabei seine Sache weniger, er geht nah dran an die Gewalt gegen einzelne Menschen, gerne auch gegen seine Hauptpersonen. Das ist extrem unangenehm. Auch in Sachen 9/11 ist das zu merken: Es ist deutlich leichter, Fotos der brennenden Twin Towers bei Google zu finden als Bilder von einzelnen Menschen, die dabei waren. So grauenhaft und faszinierend zugleich die Videoschleife mit dem Luftbild ist, viel grauenhafter und nicht zu ertragen wäre die Großaufnahme von einzelnen Menschen in Angst und Schrecken, denen Gewalt angetan wird oder die Zeuge der Gewalt werden. Kleist dagegen zoomt gnadenlos auf diese einzelnen und stellt sie live auf die Bühne oder, in seinen Erzählungen, vor unser geistiges Auge.
Insofern ist es ein Verdienst der Süddeutschen Zeitung, dass es ihr gelungen ist, in Zusammenhang mit dem ungeheuren Terroranschlag wieder einzelne Menschen in den Fokus zu stellen. Auch das ist teilweise schwer zu ertragen, aber es ist, gerade weil es fern von jedem vordergründigen Katastrophenvoyeurismus ist, immer sehr menschlich und anrührend. Und so ist es auch bei Kleist.