Durch Zufall bin ich bei meiner Beschäftigung mit der Marquise von O…. auf die Website „Edition Gothaer Hefte“ gestoßen, eine auf den ersten Blick optisch ganz schön gestaltete, aber so spartanisch ausgestattete Seite, dass ihr nicht nur jede Navigation, sondern auch, rechtlich nicht unproblematisch, ein Impressum fehlt. Eine kleine Googlerecherche ergab, dass hinter dem Projekt ein Alexander Fuchs steckt, der hier seit 2006 Texte bereitstellt, seit kurzem (explizit im Untertitel) „Digitale Literatur für E-Book Reader und Tablet PC“. Auf dem Portal BookRix findet sich eine genauere Beschreibung der „Gothaer Hefte“:
Die Edition Gothaer Hefte gibt es seit 2006 und hat ihren Sitz in Gotha / Thüringen. Der Verlag gibt ausschließlich E-Books heraus. Es gibt zwei Schwerpunkte: Zum ersten die Pflege der klassischen deutschsprachigen Literatur durch Neuausgaben z.B. von Kleist, Goethe, Schiller, Storm u.a. im digitalen Textformat. Dabei sind die originalen Texte zum Teil überarbeitet und behutsam an die moderne Gegenwartssprache angepasst worden. Dies soll, z.B. bei Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“ oder bei Heinrich von Kleists „Erzählungen“ der besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit dienen, aber auch die Schönheit dieser Literatur hervorheben. (…)
Der oder die Herausgeber von Kleists Marquise von O…. haben dabei eine recht eigenwillige Vorstellung davon, was „behutsam“ bei der Überarbeitung eines Textes bedeutet, und was unter „besserer Lesbarkeit und Verständlichkeit“ und vor allem „Schönheit“ von Literatur zu verstehen ist.
Ich stelle im folgenden eine Passage aus Kleists Erzählung in der Fassung der Münchner Ausgabe und der Bearbeitung der „Gothaer Hefte“ gegenüber:
Münchner Ausgabe | „Gothaer Hefte“ |
(…) und, wie sie durchs Schlüsselloch bemerkte, saß sie auch auf des Commendanten Schooß, was er sonst in seinem Leben nicht zugegeben hatte. Drauf endlich öffnete sie die Thür, und sah nun – und das Herz quoll ihr vor Freuden empor: die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Thränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! | (…) und wie sie durchs Schlüsselloch linste, saß sie auf des Kommandanten Schoß, was er sonst in seinem Leben nicht ertragen hatte. Darauf endlich öffnete sie die Tür und sah nun – und das Herz quoll ihr vor Freuden über – die Tochter still, mit zurückgelehntem Kopf, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, heiße Küsse, die Augen voll glänzender Tränen, auf ihre Stirn drückte, gerade wie ein Verliebter! |
Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saß er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küßte sie. Die Mutter fühlte sich, wie eine Seelige; ungesehen, wie sie hinter seinem Stuhle stand, säumte sie, die Lust der himmelfrohen Versöhnung, die ihrem Hause wieder geworden war, zu stören. | Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saß er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe. Die Mutter fühlte sich wie eine Selige; unbemerkt, wie sie hereingeschlichen war, säumte sie, die Lust der himmelfrohen Versöhnung, die ihrem Hause stattgefunden, zu stören. |
Sie nahte sich dem Vater endlich, und sah ihn, da er eben wieder mit Fingern und Lippen in unsäglicher Lust über den Mund seiner Tochter beschäftigt war, sich um den Stuhl herumbeugend, von der Seite an. | Sie nahte sich den beiden endlich und sah sie, da sie sich eben wieder voneinander lösten, mit dem Ausdruck der größten Zufriedenheit an. |
Da hat der Vater das Sitzen der Tochter auf seinem Schoß früher nicht ertragen anstatt nicht zugegeben, da wird aus dem Kuss auf den Mund ein Kuss auf die Stirn, da fliegt das Herumfingern des Vaters im Mund seiner Tochter in unsäglicher Lust komplett raus.
Am Kopf oder Fuß der Webseite mit dem Text der Erzählung selbst fehlt jeder Hinweis auf die vorgenommene Bearbeitung, die hier eindeutig nicht der behaupteten „besseren Lesbarkeit“ dient, sondern aus der einfach in erster Linie alle sexuell-inzestuösen Konnotationen gestrichen sind. Dass Kleists Erzählungen nach 200 Jahren immer noch Zensurgelüste wecken, ist schon eigenartig genug, dass die zensierten Stellen nicht gekennzeichnet sind, ist schlicht unseriös.
Inhaltlich korrekt, wenn auch nicht immer frei von Flüchtigkeitsfehlern sind die Texte auf den Seiten von „Projekt Gutenberg“ – wer einen wirklich ordentlichen Text lesen will, wird aber auch weiterhin angewiesen sein auf seriöse Buchpublikationen wie die Münchner Ausgabe – oder wenigstens das gute alte Reclamheft für 2 € inkl. als Bonus Das Erdbeben in Chili, natürlich in moderner Rechtschreibung, um die armen Schüler nicht zu sehr zu verwirren. Die Version der „Gothaer Hefte“ stellt für mich in jedem Fall einen neuen Tiefpunkt bei der Präsentation eines Kleistschen Textes im Internet dar.