Was für ein eigenartiger Brief! Sprachlich, inhaltlich, orthographisch fällt er aus allem heraus, was ich bisher an Briefen Kleists zu Gesicht bekam. Er schreibt in einem Brief im Spätherbst 1807 an Marie von Kleist, Cousine und langjährige Geldgeberin.
Ich habe die Penthesilea geendigt, von dr ich Ihnen damals, als ich den Gedanken zuerst faßte, wenn Sie sich dßen noch erinnern einn so begeisterten Brief schrieb. Sie hat ihn wirklich aufgegeßen den Achill vor Liebe. Erschrekken Sie nicht, es läßt sich lesen; wie leicht hätten Sie es unter ähnlichen Umständen vielleicht eben so gemacht. Es ist hier schon zweimal in Gesellschaft vorgelesen worden, und es sind Thränen geflossen; soviel als das Entsetzen, das unvermeidlich dabei war zuließ. Ich werde einige Blätter aus der Handschrift vom Schluß zusammenraffen, und diesem Brief einlegen. Für Frauen scheint es im Durchschnitt weniger gemacht als für Männer, und auch unter den Männern kann es nur einr Auswahl gefallen Pfuëls kriegrisches Gemüth ist es eigentlich auf das es durch und durch berechnet ist. Als ich aus meinr Stube mit dr Pfeife in dr Hand in seine trat, und ihm sagte: jetzt ist sie todt, traten ihm zwei große Thränen in d Augen. Sie kenn sein antike Mienen: wenn er die letzten Scenen liest, so sieht man den Tod auf seinem Antlitz. Er ist mir so lieb dadurch geworden, diser Mensch.
Von diesem Brief ist nur ein Fragment überliefert, und das nicht einmal von Kleists eigener Hand, sondern nur als Abschrift. Kleist äußert sich sonst fast gar nicht in den (überlieferten) Briefen zu seinen Werken, die literarische und die Briefproduktion laufen teilweise fast parallel nebeneinander her. Wenn man nicht wüsste, dass er in seiner Königsberger Zeit 1806 gleich mindestens drei seiner größten Werke offenbar fast gleichzeitig geschrieben hat, man könnte es aus seinen Briefen dieser Zeit nicht herauslesen. Und wie eigenartig diese Beschreibung der Begegnung mit seinem Freund Ernst von Pfuel nach der Penthesilea-Lesung: Als ich aus meinr Stube mit dr Pfeife in dr Hand in seine trat, und ihm sagte: jetzt ist sie todt, traten ihm zwei große Thränen in d Augen. Was soll denn da die Pfeife? Der etwas gönnerhafte Großschriftsteller tritt vor mein geistiges Auge, mit sich über dem Wohlstandsbauch spannender Weste und Uhrkette, und dieses Bild muss ich ganz, ganz schnell wieder wegwischen, denn, nein, es passt hinten und vorne nicht zum Kleistbild, das sich bei mir bis heute, 1. Juli 2011, bei meiner Kleistgesamtwerkhalbzeit also, bereits entwickelt und ansatzweise gefestigt hat.
Am Ende des Briefes versteigt sich Kleist zu der ziemlich abenteuerlichen These, dass Frauen im Publikum dem Theater und der Tragödie an sich nicht zuträglich sind, sich dabei wohl vor allem auf die Gewalt beziehend, die uns in Kleists Werken ja an allen Ecken und Enden begegnet, bis hin zu regelrechten Splatterszenen. Das ist die erste irritierende Äußerung über Frauen in Kleists Briefen seit langem, und warum er sie ausgerechnet Marie von Kleist schreibt, irritiert zusätzlich.
Ohne mich in die offensichtlich nicht einfache Quellenlage wirklich einarbeiten zu können – ich möchte doch einmal den vorsichtigen Verdacht äußern, dass dieser Brief gar nicht von Kleist stammt. Wenn doch, habe ich es mit einem besonders heftigen jener Brüche zu tun, die zu Kleist bzw. zu dem wenigen, was von ihm überliefert ist, wohl dazu gehören.