Kleists Erzählung Michael Kohlhaas, veröffentlicht 1810, aber vermutlich mindestens in Teilen schon geschrieben in der Königsberger Zeit 1805 / 1806, beunruhigt in mehrfacher Hinsicht. Wir lernen einen zunächst überaus sympathischen Menschen kennen, der, nachdem er skandalös ungerecht behandelt worden ist, aus seinem Rechtsgefühl heraus ganze Städte anzündet – damit wurde die Erzählung zu einem der literarischen Texte zum deutschen Terrorismus schlechthin.
Die ersten Zeilen sind in einer Lakonie geschrieben, die an die ersten Sätze einer Kafka-Erzählung erinnern:
An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, Namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. –
Eine Geschichte nach einer wahren Begebenheit, und das Entsetzliche dieses Menschen muss es gewesen sein, das Kleist faszinierte – es wird ja nicht der einzige in seinem Werk bleiben, der unser gleichermaßen fasziniertes wie irritiertes Kopfschütteln hervorrufen wird. Der Ton der Erzählung bleibt dabei durchgehend der eines sachlichen Berichts, stringent und kühl bis zum Schluss, auch in der Schilderung unglaublicher Gewalt.
Die Sachlichkeit, die die Schilderung eines historischen Tatsachenberichts suggeriert, steht wiederum in einem großen Gegensatz zum Einbruch des Irrationalen in die Geschichte. Dieses irrationale Element, das für den Fortgang der Story wahrhaft nicht unbedeutend ist, ist offensichtlich so irritierend, dass die zu kleist.org gehörende Website mit dem schönen Namen michael-kohlhaas.com es in allen vier dort zu findenden und unterschiedlich langen Inhaltsangaben kurzerhand unterschlägt. Eine Zigeunerin, die auch noch große Ähnlichkeit mit Kohlhaas’ zu Tode gekommener Ehefrau hat, tritt mehrfach als sehr fähige Weissagerin auf und ist maßgeblich am Wiederherstellen der Gerechtigkeit am Ende der Erzählung beteiligt. Sie wird erst relativ spät eingeführt, und sie wirkt tatsächlich zunächst wie ein Fremdkörper – fast als würde hier eine neue Geschichte anfangen, in einem neuen Stil, mit neuem Personal und neuem Spannungsbogen.
Anders als bei früheren Texten Kleists, die auch disparat wirkten, hat der Auftritt der Zigeunerin aber einen besonderen Reiz – schon etwas müde von der trockenen Schilderung der Geschichte eines Mannes, dem wirklich übel mitgespielt wird, mit dem man sich aber aufgrund der Ungeheuerlichkeit seiner Taten nur zeitweise identifizieren kann, sitzt man plötzlich wieder hellwach im Sessel und will wissen, was es mit dieser ungeheuren, geheimnisvollen, versiegelten, lebenswichtigen Weissagung für den Kurfürsten von Sachsen auf sich hat. Und der Dreh in den letzten Zeilen dieser Erzählung ist so überraschend wie, ja, Kleist, jetzt stimmt es erstmals, genial.