Die beiden großen Essays von Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden und Über das Marionettentheater, werden gerne auf wenige Grundthesen reduziert, das macht sie griffiger. Heute früh in der „Süddeutschen Zeitung“ schreibt Jens Christian Rabe aus aktuellem Anlass über Lena Meyer-Landrut und lässt sich dabei ausführlich über den Verlust der Unschuld des jungen Mannes aus, nachdem der zufällig im Spiegel seine eigene Anmut erkannt hatte und ihm daraufhin das künstliche Herstellen dieser Natürlichkeit nicht mehr gelingen wollte. In dem Artikel dient Kleists Aufsatz als Beleg für Rabes These, das deutsche TV-Unterhaltungsgewerbe habe seine beste Zeit hinter sich, was bliebe, sei der Fußball.
Lena Meyer-Landrut und ihre Versuche (sowie die ihres Managements), ihre „Natürlichkeit“ über ein langes Jahr bis heute zu retten, auf der Folie von Kleists Marionettentheater-Textes zu sehen, ist dabei durchaus spannend und sicher zielführend. Ob der Aufsatz auch zur Betrachtung der kompletten deutschen Unterhaltungsbranche inkl. Fußball taugt, ist dann aber doch die Frage.
Doch Schluss jetzt mit Jens Christian, Lena und der Anmut – dass ich jetzt derart von meinem eigentlichen Thema für heute abgewichen bin, passt irgendwie schon wieder ganz gut. Eigentlich wollte ich ja darauf hinaus, dass Kleist in seinem Aufsatz Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden mindestens genauso vom Thema abgekommen ist, dass der Essay eigentlich völlig ausufert und man sich über das seltsame Ende mit den Worten (Die Fortsetzung folgt.) H.v.K. dann so gar nicht wundern darf. Die griffigen, oft zitierten Gedanken von Kleist stehen alle in den ersten Absätzen, und in der Tat gibt es wohl kaum einen Text, der den Vorgang des Denkens im Moment des Gesprächs mit einem zuhörenden Partner schöner und treffender in Worte fasst.
Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über den Acten, und erforsche, in einer verwickelten Streitsache, den Gesichtspunkt, aus welchem sie wohl zu beurtheilen sein mögte. Ich pflege dann gewöhnlich in’s Licht zu sehen, als in den hellsten Punct, bei dem Bestreben, in welchem mein innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären. Oder ich suche, wenn mir eine algebraische Aufgabe vorkommt, den ersten Ansatz, die Gleichung, die die gegebenen Verhältnisse ausdrückt, und aus welcher sich die Auflösung nachher durch Rechnung leicht ergiebt. Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne, sagte; denn sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler, oder den Kästner studirt. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punct hinführte, auf welchen es ankommt, wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüth, während die Rede fortschreitet, in der Nothwendigkeit, dem Anfang nun auch – ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntniß, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.
Ich formuliere einen Gedanken, den ich noch gar nicht fertig gedacht habe, aus der dunklen Vorstellung heraus – und am Ende habe ich ihn zu meinem Erstaunen zu Ende, auf den Punkt gebracht. Nicht das stundenlange Brüten am Schreibtisch, sondern das Formulieren meines Gedankens vorzugsweise im Gespräch mit jemandem, der selbst nicht zu viel von der Materie versteht, führt den Gedanken erst zu einem klaren Ende. Eine Erfahrung, die vielleicht jeder schon gemacht hat, wird von Kleist hier in einem langen, höchst verschachtelten Gedankengang auf den Punkt gebracht. Schön ist, dass Kleist mit dem Untertitel An R. v. L. (sein Freund Rühle von Lilienstern) auch für diesen Text einen imaginären Gesprächspartner hat, der ihm durch seine bloße Anwesenheit hilft, seine dunkle Vorahnung zu einem klaren Gedanken auszuformulieren.
So weit, so großartig und oft zitiert – lustigerweise verliert Kleist seinen Gegenstand aber nach ein paar weiteren Belegen aus der Literatur für im Reden entstandene Gedankengänge ziemlich aus den Augen und kommt auf das Reden selbst zu sprechen. Aus dem Essay über das Denken wird einer über das Sprechen und die Sprache, was bei jemandem, von dem es heißt, er habe große Probleme mit dem Sprechen gehabt, gerade in großer Gesellschaft, besonders spannend ist.
Schließlich landet Kleist beim Widersinn mündlicher Prüfungen und stellt die These auf, dass die Tatsache, dass man in Prüfungen zuweilen sehr überraschend mit einem Thema konfrontiert wird, schon dazu führt, dass man in dieser Prüfung schlecht abschneidet:
Hier aber, wo diese Vorbereitung des Gemüths gänzlich fehlt, sieht man sie stocken, und nur ein unverständiger Examinator wird daraus schließen, daß sie nicht wissen. Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß. Nur ganz gemeine Geister, Leute, die, was der Staat sei, gestern auswendig gelernt, und morgen schon wieder vergessen haben, werden hier mit der Antwort bei der Hand sein. Vielleicht giebt es überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich von einer vortheilhaften Seite zu zeigen, als grade ein öffentliches Examen.
Ja, das ist schon ein Problem: Wenn ich Gedanken allmählig beim Reden verfertigen möchte, sie aber wegen Stress und dadurch erzeugter Sprachladehemmung nicht purzeln möchten. Die Gedanken können nur fließen, wo die Sprache fließt, Stotterer kriegen da ein Problem, wenn sie es nicht beim sturen und geistfernen Auswendiglernen belassen möchten. Ein Ausweg scheint das Verfertigen der Gedanken beim Schreiben an imaginäre Gesprächspartner zu sein, nicht die schlechteste Motivation, Schriftsteller zu werden.
Kleist schreibt hier unübersehbar über sich selbst (in Königsberg steckte er ja auch wieder in einem Universitätsbetrieb), und womöglich führt die fehlende Distanz zum Thema dazu, dass er den Aufsatz in seiner Examenssystemkritik stecken bleiben lässt und sich in dem nie eingelösten Die Fortsetzung folgt verliert. Und so kommt es, dass, wenn dieser Aufsatz zitiert wird, eigentlich immer nur seine erste Hälfte gemeint ist. Das Lesen des kompletten Aufsatzes hinterlässt jedenfalls ein eigenartig disparates Gefühl.