Jetzt muss ich aber doch noch einmal etwas über Die Familie Schroffenstein schreiben, und zwar über den berühmten Beginn des fünften Aufzugs. Kleists Freund Ernst von Pfuel soll behauptet haben, die Szene des Kleidertauschs von Ottokar und Agnes sei Ausgangspunkt und Keimzelle des ganzen Stücks gewesen, was sich etliche Germanisten kaum vorstellen können, auch Günter Blamberger zweifelt das in seiner Biografie ein wenig an und stellt sogar apodiktisch fest: „Der eilige Kleidertausch angesichts des nahenden Vaters wird in seiner sexuellen Bedeutung meines Erachtens überschätzt, er ist ein Komödienmotiv und an dieser Stelle ästhetisch und logisch fehl am Platz.“
Was die Logik betrifft, stimme ich Blamberger gerne zu – es hätte weiß Gott für Ottokar und Agnes bessere Wege gegeben, nicht nur die eigenen Leben zu retten, sondern auch Frieden zwischen den verfeindeten Familien zu stiften. Um so mehr kann ich mir sehr gut vorstellen, dass diese Szene – ein junges Liebespaar in klassischer Romeo-und-Julia-Konstellation versteckt sich in einer dunklen Höhle, er zieht sie aus und tauscht mit ihr die Kleider – die erste Szene war, die vor Kleists geistigem Auge erschien. Im Grunde hätte er sie, vielleicht schweren Herzens, aber dafür umso bestimmter, wegwerfen müssen, als er schreibend an dieser Stelle angelangt war, denn sie fällt deutlich aus dem ganzen Stück und will sich nicht in den Handlungsfluss einfügen. Gerade die Tatsache, dass diese Szene sich so gar nicht einfügen will, erscheint mir als klarer Beleg für die These, sie sei die Keimzelle für das ganze Stück gewesen – ein klassischer Fehler bei einem Erstlingswerk, wenn die fähige Dramaturgin an der Seite fehlt, die einem diese Szene wieder ausredet.
Und trotzdem: Wer das Stück gelesen, womöglich auch gesehen hat, behält diese Szene als erste in Erinnerung. Sie hat eine wunderbare, eigentümliche Zärtlichkeit und eine große erotische Spannung, und, Herr Blamberger, bloß weil es auch noch „Charleys Tante“ mit Peter Alexander oder Heinz Rühmann gibt, ist ein Kleidertausch zwischen Mann und Frau nicht für alle Zeit ein Komödienmotiv. Es kommt halt drauf an, was man draus macht:
Ottokar.
(… ) Leise öffne ich
Die Türe, schließe leise sie, als wär’
Es mir verboten. Denn es schauert stets
Der Mensch, wo man als Kind es ihm gelehrt.
Wir setzen uns. Ich ziehe sanft Dich nieder,
Mit meinen Armen stark umspann ich dich,
Und alle Liebe sprech’ ich aus mit Einem,
Mit diesem Kuß. (…)
Dann kühner wird die Liebe,
Und weil Du mein bist – bist Du denn nicht mein?
So nehm’ ich Dir den Huth vom Haupte
(Er thuts.)
störe
Der Locken steife Ordnung (er thuts) drücke kühn
Das Tuch hinweg (er thut’s) Du lispelst leis’, o lösche
Das Licht! Und plötzlich, tief verhüllend, webt
Die Nacht den Schleier um die heil’ge Liebe,
Wie jetzt.Barnabe (aus dem Hintergrunde).
O Ritter! Ritter!Agnes (sieht sich ängstlich um).
Ottokar (fällt ihr ins Wort).
Nun entwallt
Gleich einem frühling angeschwellten Strom
Die Regung ohne Maaß und Ordnung – schnell
Lös’ ich die Schleife, schnell noch eine,
(Er thut’s)
streife dann
Die fremde Hülle leicht dir ab (er thut’s).Agnes.
O Ottokar,
Was machst Du? (sie fällt ihm um den Hals).
Ottokar (an dem Überkleide beschäftigt).
Ein Gehülfe der Natur
Stell’ ich sie wieder her. Denn wozu noch
Das Unergründliche geheimnißvoll
Verschleiern? Alles Schöne, liebe Agnes,
Braucht keinen andern Schleier, als den eignen,
Denn der ist freilich selbst die Schönheit.
Was für eine Situation: Kleist betont durchaus die Gefahr, in der die beiden schweben durch die Einwürfe von Barnabe, die am Höhleneingang Wache schiebt, und zieht lustvoll daraus zusätzliche erotische Spannung zwischen den beiden. Abstrus ist es natürlich, dass Ottokar Agnes darüber lange im unklaren lässt, warum er sie da gerade Schleife für Schleife auszieht und sie sich das in dieser Situation gefallen lässt. Ich kann mir einfacheres vorstellen, als diesen fünften Akt zu inszenieren und diese Szene meinen Schauspielerinnen und Schauspielern so nahe zu bringen, dass sie spielbar wird. Vermutlich läuft das nur über die Vorstellung einer enormen erotischen Anziehungskraft zwischen Ottokar und Agnes – soll ja vorkommen bei frisch verliebten –, auch, oder womöglich gerade, angesichts großer Gefahr. Und es läuft über Ottokars hypnotische, zärtliche Verse: Agnes hängt an seinen Lippen.
Was bleibt? Im Storyaufbau gibts für Kleist noch was zu lernen, das genialische Zusammenschmeißen von Shakespearemotiven, Ritter- und Schauermärchen ergibt wahrhaftig nicht zwangsläufig ein gutes Stück. Sprachlich ahnen wir schon den ganz großen Theaterautoren: Ottokars Verse, mit denen er Agnes auszieht, entfalten eine enorme Schönheit im laut Ausgesprochen werden, die Sätze fliegen nur so und erzielen eine geradezu hypnotische Wirkung – gleichermaßen bei Agnes und den Zuschauern.