Kleist reist mit seiner Schwester Ulrike nach Paris, und aus den ersten Tagen dort, Sommer 1801, sind Briefe überliefert, die ausnahmsweise nicht nur an Wilhelmine von Zenge, sondern auch an Karoline von Schlieben und Adolphine von Werdeck adressiert sind, Freundinnen aus Dresden bzw. der Heimatstadt Frankfurt. Die langen Texte lesen sich insofern sehr spannend, dass sie einen schönen Einblick geben in Kleists Schreiblabor. Die Verfertigung des Dichters beim Briefeschreiben schreitet kräftig voran. Beschreibungen derselben Ereignisse und Gedankengänge finden sich mehr oder weniger variiert in allen überlieferten Briefen aus dieser Zeit, teilweise gekürzt, teilweise ausgeschmückt, und man merkt, mit welcher Freude Kleist an diesen Texten gefeilt hat. Hier ein kleiner Auszug aus seiner Beschreibung einer kleinen Rheinreise im Brief an Karoline von Schlieben vom 18. Juli 1801:
Doch der schönste Landstrich von Deutschland, an welchem unser großer Gärtner sichtbar con amore gearbeitet hat, sind die Ufer des Rheins von Mainz bis Coblenz, die wir auf dem Strome selbst bereiset haben. Das ist eine Gegend wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts schöneres erdenken, als dieses Thal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt. Pfeilschnell strömt der Rhein heran von Mainz u. gradaus, als hätte er sein Ziel schon im Auge, als sollte ihn nichts abhalten, es zu erreichen, als wollte er es ungeduldig auf dem kürzesten Wege ereilen. Aber ein Rebenhügel (der Rheingau) trit ihm in den Weg u. beugt seinen stürmischen Lauf, sanft aber mit festem Sinn, wie eine Gattinn den stürmischen Willen ihres Mannes, und zeigt ihm mit stiller Standhaftigkeit den Weg, der ihn ins Meer führen wird – – und er ehrt die edle Warnung u. giebt, der freundlichen Weisung folgend, sein voreiliges Ziel auf, und durchbricht den Rebenhügel nicht, sondern umgeht ihn, mit beruhigtem Laufe dankbar seine blumigen Füße ihm küssend –
Und so geht es noch eine halbe Seite weiter. Die Passage findet sich so ganz ähnlich auch in den anderen Briefen. Mal von den nicht ganz unproblematischen Vergleichen abgesehen: Wenn man bedenkt, dass Kleist noch nicht die segensreichen Einrichtungen moderner EDV zur Verfügung standen, auf die nicht nur Doktoranden beim Erstellen von Texten heute zurückgreifen können, ist es schon erstaunlich, dass Kleist bei sich selbst so umfangreiche Passagen einfach abschreibt, umschreibt, kürzt und variiert. Die Motivation für ein derartiges geistarmes Verhalten kann eigentlich nur sein, dass er das Dichten trainieren wollte. Wir erhalten Einblick in verschiedene Fassungen derselben Texte, adressiert an verschiedene Empfängerinnen.
Einiges deutet darauf hin, dass Kleist hier Passagen aus seinem berühmten Ideenmagazin gleich mehrfach für diverse Freundinnen ausweidet. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Kleist diese Briefe quasi parallel geschrieben und mit unterschiedlichen Daten versendet hat. Das Ideenmagazin, das er in mehreren Briefen erwähnt, ist nicht überliefert, sodass mehrfach darüber spekuliert worden ist, es hätte sich nur in seinem Kopf befunden. Plausibler erscheint mir, dass er tatsächlich ein Notizbuch benutzte, für das er z.B. die Rheinreisepassage schrieb und aus der er dann in den diversen Briefen ausgiebig zitierte.
Die Briefe lesen sich auch sonst teilweise wie Aphorismensammlungen, voll von mehr oder weniger zusammenhängenden Gedanken zu diesem und jenem, nicht nur zur Kernenergie, auch zum Leben an sich, zum Schicksal etc. Der Eindruck drängt sich auf, als übe Kleist für seinen neuen Lebensplan, „das ganze schriftstellerische Fach“, wobei von den konkreten Lehramts-Plänen für Paris von November 1800 keine Rede mehr ist. Dieser Mensch will schreiben, und er findet immer klarer zu seiner Sprache: einer Sprache, die ihren Fluss und ihre Schönheit erst wirklich entfaltet, wenn man die Texte laut spricht – hier entsteht ein Dramatiker.