Der Jüngling aus dem Julius-Hospital

Kleist mag Würzburg nicht, er schreibt verblüffend bissig über die ihm viel zu katholische Stadt. Kurze Bemerkungen in vorherigen Briefen über die Zwischenstationen seiner Reisen kennen wir schon, allenfalls kurze Stichpunkte über Sehenswürdigkeiten, an denen die Postkutsche vorbeirollt, mehr nicht. Aber in Würzburg, September 1800, am, wie er jetzt festlegt, Endpunkt seiner geheimnisumwitterten Reise, ändert sich der Stil seiner Beschreibungen: Aus den typischen, in Eile hingeworfenen kurzen Briefen werden eindeutig um einen literarischen Anspruch bemühte Texte. Übt Kleist für seinen neuen Lebensplan, Dichter zu werden? Rätselhaft ist insbesondere in seinem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. bis 18. September 1800 die Beschreibung eines achtzehnjährigen Jünglings aus dem Würzburger Julius-Hospital, der noch vor Kurzem blühend schön gewesen sein soll u. noch Spuren davon an sich trug. Über eine halbe Seite versteigt sich Kleist in eine mehr von Ekel als von Mitleid geprägte Beschreibung eines dahinsiechenden Irren.

Jens Bisky hat in seiner Kleistbiografie darauf hingewiesen, dass Kleist hier über einen an den schrecklichen Folgen der Onanie zugrundegehenden schreibt, und in der Tat drängt sich, wenn auch nicht explizit die Ursache der schrecklichen Krankheit genannt wird, diese Assoziation auf. Die Verteufelung der Selbstbefriedigung mag zeittypisch gewesen sein; auffällig ist der Umfang der Beschreibung und ihr ausufernder Stil. Der Anblick dieses Mannes muss Kleist sehr beschäftigt haben, ja; und der Gedanke drängt sich auf, dass Kleist seine Erlebnisse im Julius-Hospital genutzt hat, sich auf die Suche nach seinem eigenen literarischen Stil zu begeben.

Mädchen! Wie glücklich wirst Du sein! Und ich! Wie wirst Du an meinem Halse weinen, heiße innige Freudenthränen! – Seine Euphorie zu Beginn des Briefes wird, ich bleibe bei der These, nicht unbedingt etwas mit dem Verlust seiner Vorhaut zu tun haben; womöglich hat Kleist aber neue Pläne für die Zukunft, vielleicht eröffnet sich ihm mit der Aussicht auf ein Dichterdasein eine neue Chance auf eine Ehe mit Wilhelmine und Struktur in seinem Leben, mit Lebensplan, Ruhm, Geld und allem Drum und Dran.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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