Die Münchner Ausgabe der Werke Kleists habe ich ja hier schon gefühlte tausend Mal gelobt, ein letztes Lob sei hier noch erlaubt: Von der Meldung von Polizeirat Meyer über die Obduktionsberichte und der Gebührenaufstellung dafür bis hin zur Eingabe Marie von Kleists bei Friedrich Wilhelm III. ist in dieser Ausgabe auf 31 eng und kleinbeschriebenen Seiten Kleists letzte Tat dokumentiert, und die Protokolle lesen sich wahrlich interessant.
Der Tod von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist war, das ist eindeutig, von langer Hand vorbereitet worden. So entspannt, wie die beiden ihr Leben beschlossen, kann nur jemand sein, der sein Leben im Kopf bereits lange hinter sich hat. Die These, dass Kleist mit Prinz Friedrich von Homburg diesen Abschied von seinem Leben und das Akzeptieren des eigenen Todes thematisiert hat, hat sehr viel für sich (auf die zahlreichen Parallelen der Persönlichkeiten von Kleist und Homburg hat ja auch Blamberger in seiner Biographie hingewiesen) und gibt diesem Stück eine besondere, sehr anrührende Note.
Die Protokolle der Vernehmungen der Augenzeugen des Doppelsuizids geben ein sehr übereinstimmendes Bild eines lange geplanten und sich ruhig entwickelnden Ablaufs. Dass Kleist erst Henriette Vogel in die Brust schoss und dann sich in den Mund, gehört zu diesen lange geplanten Abläufen dazu. Nicht nur, dass wir diesen Vorgang bereits aus der Erzählung Die Verlobung in St. Domingo kennen – durch Kleists gesamtes Werk ziehen sich schon fast obsessiv gewaltsame Tode, bei denen Gehirnmasse herumspritzt und die Wände besudelt. Offenbar war die von Kleist gewählte Todesart, die üblicherweise wohl zu diesem Herumspritzen führt, schon lange in seinem Kopf präsent. Ein bisschen ironisch mutet da fast schon an, dass die Kugel in Kleists Kopf (womöglich entgegen seiner Erwartung) stecken blieb und sich das Gehirn eben nicht verteilt auf die umliegenden Bäume fand.
Überhaupt ist Kleists Ende ein letzter, ironischer Beweis für seinen außergewöhnlichen Dickkopf. Nicht nur, dass die Kugel seine Schädeldecke unverletzt ließ, auch die Obduktion des Gehirns gestaltete sich deutlich schwerer als erwartet – die Säge brach beim Versuch, den Schädelknochen zu zerlegen. Die Reparatur des Geräts wurde den Angehörigen später in Rechnung gestellt.
Der Obduktionsbericht der Leichen liegt in zwei Versionen vor, einmal als erstes Protokoll unmittelbar nach der Obduktion, und einmal als abschließender Untersuchungsbericht, erschienen ca. 14 Tage später. Interessant ist, dass in der zweiten Version, obwohl über weite Strecken mit dem ersten Protokoll wörtlich identisch, viele Befunde, die in der ersten Version noch als normal eingestuft wurden, neu bewertet erscheinen. Plötzlich wird ausführlich von der „widernatürlich großen“ Leber berichtet, der Menge an „verdikter Galle“ und viel „schwarzem Blut“. Das Ziel ist klar: Gemäß der im 18. Jahrhundert bereits veralteten Humoralpathologie, der Lehre der vier Säfte, sollte der Selbstmörder Kleist im Nachhinein zum Geisteskranken gestempelt werden. Marie von Kleist wiederum versuchte in ihrem Brief an Friedrich Wilhelm III., Henriette Vogel zum Kleist zum Tode verführenden Teufel zu stilisieren und die Unschuld Kleists an seinem Selbstmord zu betonen, sicher auch mit dem Ziel, vom König nicht in Sippenhaft genommen zu werden. Angesichts des gegenüber heute erheblich größeren Skandalpotential eines Suizids und der von der Kirche ausgeübten Verdammung in Folge kein Wunder.
Kleists Ende ist, das ist besonders bitter, die am besten dokumentierte Phase seines gesamten Lebens, minutiös und zweifelsfrei erfasst. Kleists Suizid ist der große und farbige Skandal zum Schluss, der diesen Dichter vielen seiner Zeitgenossen überhaupt erstmals ins Bewusstsein rückte. Sein Suizid machte ihn womöglich überhaupt erst berühmt. Dabei war es sicher nicht die größte Tat seines Lebens, ganz sicher aber seine spektakulärste und womöglich die mit der größten Gelassenheit durchgeführte.