Ich gehe mit Büchern gern pfleglich um. Die Münchner Ausgabe mit ihrem schönen Druck auf empfindlichem Dünndruckpapier – nein, die pfeffer ich nicht in die Ecke. Aber, das halte ich an dieser Stelle, an meinem 18. Kleisttag, ausdrücklich fest: Kleist macht es mir nicht leicht! In seinem Brief an Ulrike vom Mai 1799, der in meiner Chronologie einen großen, bis März andauernden Briefemarathon einleitet, wirft er seiner Schwester vor (jaaaaa, das ist die Schwester, die ihn geduldig bis an sein Lebensende in jeder Hinsicht, auch und gerade finanziell, unterstützen wird), sie habe keinen Lebensplan. Und das gehe ja gar nicht:
Ja, es ist mir so unbegreiflich, wie ein Mensch ohne Lebensplan leben könne, u. ich fühle, an der Sicherheit, mit welcher ich die Gegenwart benutze, an der Ruhe, mit welcher ich in die Zukunft blicke, so innig, welch’ ein unschätzbares Glück mir mein Lebensplan gewährt, u. der Zustand, ohne Lebensplan, ohne feste Bestimmung, immer schwankend zwischen unsichern Wünschen, immer im Widerspruch mit meinen Pflichten, ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Drathe des Schicksaals – dieser unwürdige Zustand scheint mir so verächtlich, und würde mich so unglücklich machen, daß mir der Tod bei weitem wünschenswerther wäre.
Dieser Absatz ist gleich in mehrfacher Hinsicht spannend. Er hat etwas atemloses, die Sprache scheint auseinanderzufallen, Kleist bekommt seine Sätze nicht zusammen, der Absatz wirkt fast wie im Wasserfall gesprochen – sprachlich steht der Text im seltsamen Gegensatz zu seiner Behauptung, er benutze mit Sicherheit die Gegenwart und blicke mit Ruhe in die Zukunft.
Ob man wohl davon ausgehen darf, dass er, in einer Zeit, in der er seinen eigenen ursprünglichen Lebensplan über Bord geworfen hat und sich anschickt, einen neuen Lebensplan nach nur wenigen Monaten wieder in den Orkus zu versenken, mehr über sich selbst spricht als über seine Schwester? Kleists Laborieren an den Lebensentwürfen und Lebensplänen, sein unbedingtes Festhalten an Glückskonzepten, über die ich hier schon mehrfach geschrieben habe, bekommt in diesem Absatz etwas Manisches. Keinen Lebensplan zu haben – dieser unwürdige Zustand scheint mir so verächtlich, und würde mich so unglücklich machen, daß mir der Tod bei weitem wünschenswerther wäre. Den Satz lassen wir uns noch einmal auf der Zunge zergehen.
Ach ja: Der Moment beim Lesen, bei dem ich dem Buch durch gezieltes Pfeffern in die Zimmerecke fast beträchtlichen Schaden zugefügt hätte, war erreicht, als Kleist zur Schlusspointe des Briefes kam: Ulrike hat nämlich durchaus Pläne für ihr Leben, nur – in seinen Augen – die falschen: Sie will nicht heiraten. Und das geht ja wohl gar nicht:
Kannst Du Dich dem allgemeinen Schicksal Deines Geschlechtes entziehen, das nun einmal seiner Natur nach die zweite Stelle in der Reihe der Wesen bekleidet? Nicht einen Zaun, nicht einen elenden Graben kannst Du ohne Hülfe eines Mannes überschreiten, u. willst allein über die Höhen u. die Abgründe des Lebens wandeln?
Heinrich, mir graut’s vor Dir.